Zwangsstörungen

Aus psych-med

Neurobiologie

  • Serotoninhypothese → Dosis-Wirkungs-Effekt von SSRI → hohe Dosen wirksam
  • Beteiligung der Basalganglien → tiefe Hirnstimulation

Leitlinie

  • Diagnostischer Stufenplan
    1. Screening: 5 Fragen
      1. Waschen oder Putzen Sie sehr viel?
      2. Kontrollieren Sie sehr viel?
      3. Haben Sie quälende Gedanken, die Sie loswerden möchten, aber nicht können?
      4. Brauchen Sie für Alltagstätigkeiten sehr lange?
      5. Machen Sie sich Gedanken um Ordnung und Symmetrie?
    2. bei Verdacht: ICD-10-Zwangsstörung
    3. bei Hinweisen somatische Diagnostik
    4. Ausprägung, Verlaufsdiagnostik (z.B. Y-BOCS)
    5. Auswirkungen: Aktivität, Teilhabe, Lebensqualität, Beziehungen
    6. Fremdanamnese → Bezugspersonen
    7. bei Alter > 50 J. → hirnorganische Abklärung
  • Psychotherapie
    • störungsspezifische KVT mit Exposition und Reaktionsmanagement
    • alternativ ACT
    • Einzel oder Gruppe
    • Therapiedauer bis klinische Besserung (Y-BOCS-Reduktion > 50%)
    • Exposition in Therapeutenbegleitung
    • Ziel: Selbstmanagement → selbständige Expos
    • idealerweise außerhalb der Praxis/Klinik, im häuslichen Umfeld
    • Therapie über Internet/Telefon wirksam
    • Bezugspersonen einbeziehen
    • kein Wirksamkeitsnachweis für psychodynamische Therapie und andere Verfahren
    • stationäre Therapie bei
      • vitaler Gefährdung
      • schwerer Vernachlässigung/Verwahrlosung
      • Unmöglichkeit eines normalen Tagesablaufs und ambulanter Therapie
      • starkem Leidensdruck, starker Beinträchtigung der psychosozialen Funktionsfähigkeit
      • Versagen leitliniengerechter ambulanter Therapie
      • erschwerender psychischer/somatischer Komorbidität
      • Fehlen leitliniengerechter ambulanter Therapiemöglichkeit
    • Rückfallprophylaxe: Booster-Sitzungen, Selbsthilfegruppen, ambulante Therapie
  • Pharmakotherapie:
    • Monotherapie nur, wenn KVT abgelehnt wird oder nicht durchgeführt werden kann (Schwere der Symptomatik, Verfügbarkeit), Ziel: Bereitschaft und Möglichtkeit für KVT
    • SSRI: Fluoxetin, Fluvoxamin, Sertralin, Paroxetin, Citalopram (in D nicht zugelassen) gleich wirksam
    • in maximaler Dosierung einsetzen, auch zur Erhaltungstherapie (Dosis-Wirkungs-Beziehung)
    • Clomipramin gleich wirksam, aber UAW↑ → nur zweite Wahl bei Nichtansprechen auf mind. 2 SSRI
    • TZA, Mirtazapin, Buspiron, Benzodiazepine nicht wirksam
    • SNRI nur zweite Wahl (off label)
    • UAW beachten
    • max. Wirkung nach 8-12 Wochen → mindestens 12 Wochen
    • bei mangelndem Ansprechen: Compliance, Dosis, Serumspiegel?
    • Augmentation:
      • Kombination SSRI/Clomipramin
      • Lithium, Pindolol, Nortryptilin, Desipramin nicht wirksam
      • Risperidon, Haloperidol oder Quetiapin (v.a. bei komorbider Tic-Störung)
        • bei Nicht-Ansprechen nach 6 Wochen wieder absetzen
        • nicht zur Monotherapie
    • Rückfallquote nach Absetzen 80% → mind. 1-2 Jahre, Ausschleichen über mehrere Monate unter engmaschiger Beobachtung
  • Kombinationstherapie:
    • KVT + Psychopharmakotherapie
      • besser wirksam
      • schnellerer Wirkungseintritt
      • bei komorbider Angststörung oder Depression
      • wenn Monotherapie nicht ausreichend
  • andere Verfahren:
    • TMS nicht wirksam
    • EKT nicht wirksam
    • tiefe Hirnstimulation:
      • bei schwerstbetroffenen Patienten
      • bei therapierefraktärer Zwangsstörung
      • nur im Rahmen klinischer Studien
  • Sonstige Empfehlungen:
    • Aufklärung und Informationsvermittlung, auch von Bezugspersonen/Angehörigen
    • neben Symptomreduktion auch Verbesserung des subjektiven Lebensqualität, Aktivität, Teilhabe, Beziehungen
    • Shared decision making = Patient in Entscheidungen einbeziehen
    • Ergotherapie möglich

Kognitiv-behaviorales Modell

nach Salkovski

  1. Auslöser: Situation oder willkürlich auftretender Gedanke
  2. aufdringlicher/problematischer Gedanke
  3. Bewertung des Gedankens als extrem negativ, unerträglich, zwingend, realistisch
    • Denkfehler: Katastrophendenken, Überschätzung der persönlichen Verantwortung, der Wahrscheinlichkeit des Auftretens (einer Katastrophe)
    • Dysfunktionale Schemata aktivieren Metakognitionen:
      1. Thought-action fusion: "Wenn ich etwas denke, werde ich es auch tun."
      2. Thought-event fusion: "Wenn ich etwas denke, wird es Realität."
      3. Thought-object fusion: "Wenn ich etwas denke, wird es auf einen Gegenstand überspringen / er wird kontaminiert werden."
  4. Emotionale Reaktion: Unruhe, Erregung, Angst
  5. Neutralisierung:
    • Ausführung des eigentlichen Zwanges auf Handlungs- oder kognitiver Ebene
    • Funktion: Abwenden von der mit dem aufdringlichen Gedanken verbundenen Gefahr
  6. Rückkoppelungsprozess:
    • Neutralisierung
      1. kurzfristig angstreduzierend → wirksam → negative Verstärkung des Zwangsrituals
      2. verstärkt dysfunktionale Annahmen über Verantwortung
      3. erhöht Bedeutsamkeit und damit Auftretenshäufigkeit der aufdringlichen Gedanken
    • Unterdrückung der Gedanken = Beweis für Bedeutsamkeit → Auftretenshäufigkeit ↑
  • Affektive Störungen: verstärken dysfunktionalen Schemata → Relevanz/Frequenz↑ aufdringlicher Gedanken
  • Entscheidend im Modell sind die inadäquaten Bewertungsprozesse:
    • Wahrnehmung einer Bedrohung
    • Überschätzung der persönlichen Verantwortung
  • beide Überzeugungen interagieren miteinander und potenzieren sich in ihrer negativen Wirkung
  • Gefahr = Wahrscheinlichkeit x Konsequenzen

Netzwerktheorie nach Foa et al.

  • Ergänzung zu kognitiven Modellen
  • Fokus auf Struktur der Emotions- und Informationsverarbeitungsprozesse
  • Ausgangspunkt: Emotionen werden in Form einer Netzwerkstruktur im Gedächtnis abgebildet
  • Drei Arten von Infos, die über assoziative Verknüpfungen miteinander verbunden sind:
    1. Angstauslösende Stimulusbedingungen
    2. Verbale, physiologische und behaviorale Reaktionsmöglichkeiten
    3. Bedeutung dieser Reiz- und Reaktionselemente
  • Angstnetzwerke sind im Vergleich zu normalen Gedächtnisstrukturen
    • kohärent: sehr verzweigte Netzwerke → minimale Info reicht aus, gesamte Struktur zu aktivieren und Angst auszulösen
    • stabil: korrektive Infos können schlecht integriert werden
    • irrational
  • Patienten weisen kognitive Beeinträchtigungen in vier Bereichen auf:
    1. Überschätzung der Wahrscheinlichkeit eines Schadens/Unglücks
    2. Überschätzung der Konsequenzen eines Schadens/einer Handlung
    3. Überschätzung der eigenen Verantwortung
    4. Überschätzung der Bedeutung der Zwangsgedanken
    5. Übertriebenes Sicherheit- und Kontrollbedürfnis
    6. Magisches Denken

Symptome

Zwangsgedanken = Obsessions

  • inhaltliche Denkstörungen im Sinne sich zwanghaft immer wieder aufdrängender, jedoch als unsinnig erkannter Denkinhalte
  • häufig auch formale Denkstörungen (Perseverationen, Gedankenkreisen/Gedankenarmut, überwertige Ideen)
  • Zwangsideen/-befürchtungen/-vorstellungen: z.B. Befürchtung, etwas nicht richtig gemacht zu haben; Angst, dass dem Ehepartner etwas Schlimmes zustoßen könnte
  • Zwangsimpulse: z.B. schädigende Handlungen gegen sich oder andere
  • Grübelzwang: bestimmte Gedanken müssen wieder und wieder durchdacht werden ohne Möglichkeit, dabei zu einer Entscheidung oder zu einer Lösung zu kommen
  • quälende Zweifel: Unsicherheit, Handlungen nicht zufrieden stellend abgeschlossen, etwas falsch verstanden, getan oder unterlassen zu haben
  • häufige Themen:
    • Schmutz/"Verseuchung" (Exkremente, Schmutz, Staub, Samen, Menstruationsblut, Keime, Infektionen)
    • Gewalt/Aggression (körperlicher oder verbaler Angriff auf sich selbst oder andere Personen; Unfälle, Missgeschick, Krieg, Katastrophen, Tod)
    • Ordnung (Ordentlichkeit, Symmetriebestrebungen usw.)
    • Religion/Magie (Existenz Gottes, religiöse Praktiken und Rituale, Glaubenssätze, moralische Einstellungen)
    • Sexualität (sexuelle Handlungen an sich oder anderen, inzestuöse Impulse, sexuelle Leistungsfähigkeit)

Zwangshandlungen = Compulsions

  • Handlungsstereotypien
  • Ich-dyston
  • teilweise Zwangsritual
  • Beispiele:
    • Hygienezwang, z.B. Wasch-/Putzzwang
    • Kontrollzwang: ständige Überprüfung von bestimmten Dingen, wie Herdplatten, Türschlösser, Lichtschalter, wichtige Papieren
    • Ordnungszwang: Symmetrie, Ordnung, "Gleichgewicht" → Bücher, Kleidung, Nahrungsmittel nach strengen Regeln perfekt ordnen
    • Berührzwang: Zwang, Dinge anzufassen/nicht anzufassen
    • Zählzwang: Zwang, Dinge im Alltag zu zählen
    • verbale Zwänge: Wiederholung von Ausdrücken, Sätze, Melodien

Praktisches

  • Zwangshierarchie = Angsthierarchie (Gedanken, Handlungen)
  • Verlaufsmessung: Y-BOCS, OCI-R
  • Vermeidungsverhalten genau erfragen
  • Stichtagsregelung
  • Zwangsgedanken: Expo = Aufnehmen + tgl. anhören

DD Schizophrenie

  • teilweise Übergänge zwischen Zwangsstörung/Schizophrenie
  • wichtig: Abgrenzung von Zwängen gegenüber Stereotypien und Manierismen
  • Zwangssymptome bei Schizophrenie:
    • Wiederholte Verhaltensweisen, die tägliche Aktivitäten stören (Berühren, Rituale sind so häufig, dass sie Stunden verbrauchen)
    • Unentschlossenheit / Blockiertheit in massiver Ausprägung.
    • Verhalten, das vor einer gezielten Handlung ausgeführt wird (Schuhe oder Schreibtisch ordnen).
    • Wiederholtes Verhalten, das magisch Schaden oder Schmerz vermeiden soll (rituelles Vermeiden von Schmutz)
    • Zwanghafte pedantische Sprache und Berichtigung anderer.
    • Rituelles Wiederholen von Sätzen oder Silben
    • Zwanghaftes Wiederholen von Berührungen, Ausführen von abstossendem Verhalten, z.B. zwanghaft auf die Schamregion schauen, zwanghaft Stuhl an Unorte deponieren etc.
    • Klagen über wiederholte sich aufdrängende Gedanken, die als sinnlos und anstössig erlebt werden
  • Unterschiede Zwang - Schizophrenie
Bereich Zwang Schizophrenie
Intrusivität Der Drang kommt von der Person selbst, d.h. von innen. Gedanken werden eingegeben, eine Stimme sagt mir: „ Tu ....“
innerer Widerstand "Ich will das ja gar nicht tun, ich versuche mich zu wehren" "Ich muss da tun, das ist mir aufgetragen"
Ich-Syntonie Patient distanziert sich von den Inhalten: "unsinnig, unnötig" Patient identifiziert sich mit den Inhalten, "überzeugt"
Denken eingeengt, aber kohärent evtl. inhaltliche/formale Störung
  • DD Impulskontrollstörung: Ich-Syntonie

DSM-5

  • neues Kapitel "OC and related disorders"
    • Zwangsstörung
    • körperdysmorphe Störung
    • zwanghaftes Horten/Sammelzwang → oft Persönlichkeitsakzentuierung
    • Trichotillomanie/Skin Picking
    • substanzinduzierte Zwangsspektrumsstörung
  • obligat "Grad der Einsicht": gut, wenig, keine
  • zusätzlich "mit/ohne Ticstörung" → Prävalenz bei Zwangsstörungen 30% (v.a. männliche Kinder/Jugendliche)